Polarisation von Röntgenstrahlung entschlüsselt elektronische Struktur von Materie

Visuelle Information über unsere Welt erhalten wir durch Licht. Eine neben Farbe und Helligkeit weniger „augenfällige“ Eigenschaft von Licht ist dessen Polarisation. Die Polarisation von Licht ist die Ebene, in der das elektrische Feld der Lichtwelle schwingt. Die Schwingungsebene des Lichtes kann sich ändern (z. B. drehen), wenn Licht an einem Material gestreut wird. Man spricht dann von einer optischen Aktivität des Materials. Die Drehung der Polarisationsebene des Lichts enthält wertvolle Information über die Eigenschaften des beleuchteten Materials. Beispielsweise ermöglicht sie Rückschlüsse auf die bevorzugte Ausrichtung von Elektronen in Atomen (Orbitale) und die Richtungen, entlang derer sich die Elektronen in einem Material bewegen können. Solche Vorzugsrichtungen werden als Anisotropien bezeichnet und bilden oftmals die Grundlage für spezifische Eigenschaften von modernen Funktionsmaterialien, z. B. gerichteter Stromtransport, magnetische Ausrichtung von Nanostrukturen, optische Doppelbrechung u. v. m..

 

Physiker*innen vom Helmholtz-Institut Jena und der Friedrich-Schiller-Universitä, dem DESY in Hamburg sowie Forschungsinstituten in Grenoble und Paris haben nun einen neuen Weg entdeckt, wie Polarisationsänderungen von Röntgenstrahlung mit besonders großer Empfindlichkeit detektiert werden können und sich so Anisotropien in den elektronischen Eigenschaften von Materialien mit hoher Genauigkeit nachweisen lassen. Dazu haben die Forschenden die extrem leuchtstarke Synchrotronstrahlungsquelle PETRA III am DESY in Hamburg verwendet. Die untersuchten Proben waren die Metalloxide CuO sowie La2CuO4. Diese sind Ausgangsmaterialien für Hochtemperatursupraleiter, in denen die Elektronen in den Orbitalen des Kupfer-Atoms eine große Rolle bei der Supraleitung spielen. Die Ergebnisse dieser Studie wurden kürzlich in der Fachzeitschrift Optica veröffentlicht.

 

Der Schlüssel zu der neuen Messmethode ist eine Technik, die in Jena schon seit vielen Jahren entwickelt wird, die Präzisionspolarimetrie mit Röntgenstrahlung: Lässt man Röntgenlicht unter einem Einfallswinkel von 45 Grad an einem perfekten Einkristall aus Silizium mehrfach reflektieren, dann ist dieses Licht nach der Reflexion nahezu vollständig linear polarisiert, d. h. es schwingt praktisch ausschließlich in einer Ebene. Die Streuung dieses Lichts an einem optisch aktiven Material verursacht Abweichungen von dieser Perfektion, die sich in einer leichten Drehung der Schwingungsebene des Lichts bemerkbar machen. Diese Drehung der Polarisation lässt sich durch Reflexion des gestreuten Lichts an einem zweiten, identischen Kristall nachweisen, dessen Reflexionsebene um 90 Grad gegenüber dem ersten Kristall gedreht ist. Aufgrund der hohen Perfektion der Siliziumkristalle erreicht man dabei Empfindlichkeiten von eins zu einer Milliarde, d. h. man erhält ein deutliches Messsignal selbst dann, wenn nur ein winziger Anteil von einem Milliardstel (10-9) des von der Probe gestreuten Lichtes gedreht wird.

 

Zur Drehung der Polarisation tragen zwei optische Effekte bei: zum einen die selektive Schwächung des Lichtes durch die Probe (Dichroismus), zum anderen die richtungsabhängige Brechung des Lichtes (Doppelbrechung) in dem Material.

 

Den Wissenschaftler*innen ist es in diesem Experiment gelungen, die Beiträge dieser beiden Effekte voneinander zu trennen und diese auf die Wechselwirkung des Röntgenlichts mit spezifischen Orbitalen des Kupfer-Atoms in den untersuchten Materialien zurückzuführen (siehe Abbildung rechts). Damit steht nun eine hochempfindliche Methode zur Verfügung, den elektronischen Anisotropien in komplexen Materialien auf die Spur zu kommen und zu untersuchen, welche Rolle diese beispielsweise für neuartige Formen von Supraleitung, Magnetismus und optische Eigenschaften spielen, berichtet Annika Schmitt, Erstautorin dieser Studie.

 

Die Weiterentwicklung der Methode an Röntgenquellen wie z. B. dem Europäischen Röntgenlaser XFEL oder der zukünftigen beugungsbegrenzten Synchrotronstrahlungsquelle PETRA IV verspricht eine Steigerung der Nachweisempfindlichkeit um einen Faktor 1000 auf eins zu einer Billion (10-12). Damit könnte es dann sogar möglich sein, die optische Doppelbrechung des Vakuums nachzuweisen, ein Effekt, der von Heisenberg und Euler bereits 1936 vorhergesagt wurde, sich bisher aber eines experimentellen Nachweises entzogen hat. Ein entsprechendes Experiment am Europäischen Röntgenlaser befindet sich aktuell in Vorbereitung, berichtet Professor Gerhard G. Paulus, Inhaber des Lehrstuhls für nichtlineare Optik an der Universität Jena. Würde man in einem solchen Experiment auch einen Dichroismus des Vakuums nachweisen, könnte dies ein direkter Hinweis sein auf Teilchen jenseits des Standardmodells. Ralf Röhlsberger, Professor für Röntgenphysik an der Friedrich-Schiller-Universität und Wissenschaftler am DESY, ist überzeugt, dass die Methode der hochreinen Röntgenpolarimetrie faszinierende Anwendungsmöglichkeiten eröffnet, nicht nur für das Studium der elektronischen Eigenschaften von komplexen Festkörpern, sondern auch für fundamentale Studien der Licht-Materie-Wechselwirkung.

 

Originalveröffentlichung: Annika T. Schmitt, Yves Joly, Kai S. Schulze, Berit Marx-Glowna, Ingo Uschmann, Benjamin Grabiger, Hendrik Bernhardt, Robert Loetzsch, Amelie Juhin, Jerome Debray, Hans-Christian Wille, Hasan Yavas, Gerhard G. Paulus, and Ralf Röhlsberger: Disentangling x-ray dichroism and birefringence via high-purity polarimetry. Optica 8, 56–61 (2021), DOI: 10.1364/OPTICA.410357